Foto: Sandra Warnken
In einem aussortierten Buch aus Krefeld hat Sandra Warnken den Zettel gefunden. Es sind nur wenige Worte, die tief berühren. Der Nachname des Jungen wurde für die Veröffentlichung unkenntlich gemacht.
Ein Zettel aus dem Jahr 1962 hat Sandra Warnken aufmerksam gemacht. „Mein liebster Wunsch“, steht dort in kindlicher Handschrift, „ist das ich wieder ins Heim komme.“ Unterzeichnet wurde er von einem Carsten K. Und als wollte der Junge sicherstellen, dass sein Wunsch auch wirklich in Erfüllung geht, notierte er nicht nur das Datum, sondern auch seinen Geburtstag. Berührende Worte, die eine Frage hinterlassen: Warum möchte ein Kind zurück ins Heim?
Als Jens Lüdert, Leiter des Kinderheims Kastanienhof, jenen Zettel sieht, erstaunt ihn zunächst etwas anderes. „Die Jahreszahl ist ungewöhnlich. Normalerweise liest man über die 60er Jahre eher Negatives.“ Damals, so erzählt er, gab es wenig geschultes Personal. Der Kastanienhof wurde 1953 gegründet und war zunächst ein Säuglingsheim, das von Nonnen geführt wurde. Die Schwestern versorgten die Babys und fuhren mit ihnen spazieren. Ein pädagogisches Konzept gab es jedoch nicht. „Erst später hat man angefangen, sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu beziehen“, sagt Lüdert. Man hat zum Beispiel herausgefunden, dass die ersten Lebensjahre wichtig für die Bindung sind. Der häufige Wechsel von Bezugspersonen hat den Kleinkindern nicht gutgetan. Heute werden Kinder unter drei Jahren nur noch in Pflegefamilien untergebracht.
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Foto: Lammertz, Thomas (lamm)
Pflegefamilien werden gesucht
Kastanienhof 88 Kinder leben derzeit im Kinderheim Kastanienhof. Dort gibt es insgesamt zehn Wohngruppen, zwei für Kinder mit intensivem Förderbedarf, sechs Familiengruppen und zwei Wohngruppen, die außerhalb im Stadtgebiet liegen. Sie sind für ältere Jugendliche gedacht. Begleitet werden sie von einem Betreuer. Hinzu kommen Pflegefamilien, die Kinder bei sich aufnehmen.
Pflegefamilie Engagierte Familien werden gesucht, der Bedarf ist hoch. Interessierte können sich an die Stelle Pflegekinder Kastanienhof wenden. Dort erhalten sie weitere Informationen. Telefon: 02151 507310.
Aber auch in der Heimarbeit hat sich einiges geändert. „Am Kastanienhof kam der Umbruch 1970“, erzählt Lüdert. Der große Schlafsaal wich kleineren Wohneinheiten, die Betreuungsgruppen wurden immer kleiner und familiärer. „Heute sind es neun Kinder, die in einer Gruppe leben. Bei Kindern, die eine intensive Betreuung brauchen, sind es sechs.“
Über den Wunsch des Jungen wundert der Heimleiter sich nicht. Solche Aussagen kann er auch für die heutige Zeit unterschreiben.
„Man muss immer bedenken, dass die Kinder nicht ohne Grund aus ihren Familien genommen werden. Eine Herausnahme ist immer der letzte unausweichliche Schritt. Bis dahin haben die Kinder oft schon einen langen Leidensweg hinter sich“, sagt er. In manchen Fällen hat es Gewalt oder Missbrauch gegeben, in anderen Fällen waren die Eltern schlicht zu jung, andere sind drogenabhängig oder haben eine psychische Erkrankung, die sie nicht erziehungsfähig macht. Das Zuhause als sicheres Nest funktioniert dann nicht mehr. Die Kinder leben in permanenter Verunsicherung und können nur schwer einschätzen, wie die Eltern auf bestimmte Situationen reagieren. Das schürt Ängste.
„Wenn Kinder gerne im Heim sind, heißt es nicht, dass sie ihre Eltern nicht mehr lieben“, sagt Lüdert. Im Gegenteil: Oft sei die Freude groß, wenn Mutter und Vater zu Besuch kommen. Das Heim bietet ihnen jedoch das, was ihnen in ihrer Familie mitunter gefehlt hat. Verlässlichkeit, einen festen Tagesablauf, regelmäßige Mahlzeiten, Anerkennung und Aufmerksamkeit.
„Manchmal kommen Kinder hier an, bei denen klar ist, dass sie aus einem chaotischen Haushalt stammen. Nach zwei Wochen erleben wir, wie sie aufblühen. Dabei haben wir ihnen gar nicht viel gegeben außer Normalität“, erzählt der Heimleiter. „Den Eltern“, das betont er immer wieder, „kann man keinen Vorwurf machen. Sie haben ihre eigenen Probleme und schaffen es einfach nicht, gewohnte Muster zu durchbrechen.“
Ziel jeder Unterbringung sei es aber, zu prüfen, ob die Kinder wieder in ihrer Familie leben können. Dafür wird mit den Eltern nach Lösungen gesucht und an Problemen gearbeitet – so dass sie wieder in der Lage sind, sich um ihr Kind zu kümmern. Wenn nötig, auch mit ambulanter Unterstützung. Für dieses Rückführungsprogramm engagiert das Jugendamt eine neutrale Fachkraft, die die Rückkehroption prüft und erarbeitet. Allerdings gibt es auch Ausnahmen: In Fällen, in denen Gewalt und Missbrauch eine Rolle gespielt haben, ist dieses Programm nicht vorgesehen. Zusätzlich gibt es jedes halbe Jahr ein sogenanntes Hilfeplangespräch, an dem alle Beteiligten – Jugendamt, Eltern und Mitarbeiter der Einrichtung – zusammenkommen. Sie besprechen, was in der Zeit passiert ist, was sich verändert hat und ob es neue Perspektiven gibt. Auch das Kind werde nach seinen Wünschen gefragt. Einige Kinder entscheiden sich dabei bewusst dafür, in ihrer „Heim-Gruppe“ zu bleiben. „Sie sind zu oft von dem System Familie enttäuscht worden.“
Zurück zu Sandra Warnken. Den Zettel des jungen Carsten hat sie in einem aussortierten Buch aus Krefeld gefunden. In welchem Kinderheim er gelebt hat, weiß sie nicht. Dennoch lässt sie seine Botschaft nicht los. „Mich hat sie sehr berührt, ich würde gerne wissen, was aus ihm geworden ist. Mittlerweile dürfte er Mitte 60 sein. Ich hoffe, dass er sein Glück gefunden hat.“